Eine Gehirn-Computer-Schnittstelle für JEDEN?

Für Klaus Schwab, dem Gründer und Vorsitzenden des WEF (Weltwirtschaftsforum) scheint das DIE zu erwartende Zukunft für uns ALLE zu sein. In einem Interview am 10.01.2016 mit Pardonnez-moi, einer Sendung des Schweizer Radio und Fernsehens sagte er folgendes:

„Wir sehen eine Verschmelzung zwischen der
physischen, digitalen und biologischen Welt.“

Klaus Schwab

Und während eines Treffens des Weltwirtschaftsforums im Jahr 2017 fragte Klaus Schwab den Google-Mitbegründer Sergey Brin, ob er sich eine Zukunft vorstellen könne, in der jeder einen implantierbaren Gehirnchip hat.

Klaus Schwab: „Können Sie sich vorstellen, dass wir in 10 Jahren, wenn wir hier sitzen, ein Implantat in unserem Gehirn haben und ich kann sofort spüren, [wendet sich dabei zum Publikum] weil Sie ALLE Implantate haben werden, ich kann – und wir messen alle Ihre Gehirnwellen – und ich kann Ihnen sofort sagen, wie die Leute reagieren, oder ich kann spüren, wie die Leute auf Ihre Antworten reagieren. Ist es vorstellbar?“ 

Sergey Brin: „Ich denke, das ist vorstellbar. Ich denke … … ich denke, Sie wissen, dass sie sich vorstellen können, dass Sie sozusagen in eine Art Internet verpflanzt werden. [???] Sie kennen die bessere Fähigkeit, für immer in einer digitalen Welt zu leben. [???] Sie wissen, Sie können sich vorstellen, dass Sie allein in Ihrer biologischen Inkarnation ein sehr langes Alter erreichen werden. [???] Ich denke, es ist fast unmöglich vorherzusagen“ …wohin sich die Technologie entwickeln könnte…

Für Klaus Schwab ist das Thema Implantate als „menschliche Schnittstelle“ zwischen der physischen, digitalen und biologischen Welt die einzige vorstellbare Zukunft für unsere Spezies. Bereits in den 60er Jahren wurde von Calhoun, der durch das Experiment Universum 25 bekannt wurde, Denkprothesen für ALLE als einzige Entwicklungsmöglichkeit des Homo sapiens weisgesagt.

Dieses Gedankengut hat bereits die Foren des WEF verlassen und wird offen in den Werken von Yuval Harari in die breite Öffentlichkeit getragen.

In seinem weltweit promoteten Bestseller „Homo Deus“ von 2015 findet Harari klare Worte über die Zukunft der Menschheit. Auf die Frage „Sind wir Menschen kurz vor dem Aussterben?“, antwortet er:

„Ja, aber es ist kein Ende wie in einem Hollywood-Film, in dem Roboter verrückt werden und alle Menschen töten. Es ist wahrscheinlicher, dass wir neue Technologien nutzen werden, vor allem Biotechnologie mit künstlicher Intelligenz, um uns zu verändern und in Wesen zu verbessern, die sich von uns viel mehr unterscheiden als wir uns von den Neandertalern oder Schimpansen. Ich denke also nicht, dass in 200 Jahren Menschen wie wir die Erde bevölkern werden. Unsere Nachfahren werden eine Form von Cyber-Wesen sein, die das zukünftige Leben dominieren.“

Doch stellt eine Gehirn-Computer-Schnittstelle für gesunde Menschen tatsächlich eine Erweiterung und damit eine Verbesserung dar? Mit dieser Frage beschäftigt sich dieser Artikel. Dafür betrachten wir zunächst das menschliche Gehirn, dessen Aufbau und Funktionsweise. Danach widmen wir uns der Thematik Gehirn-Computer-Schnittstelle und geben Einblicke über einige aktuelle Forschungsschwerpunkte.

Das menschliche Gehirn
Die Gehirn-Computer-Schnittstelle
Braucht die Menschheit Denkprothesen?

In den folgenden Ausführungen werden wir ausgehend von der Gesamtstruktur des Gehirns immer tiefer in das Denkorgan zoomen.

Das menschliche Gehirn

Verschiedene Bereiche unseres Gehirns
Funktionsweise des Gehirns
Es bleiben Rätsel
Kleine Veränderung, große Wirkung

Verschiedene Bereiche unseres Gehirns

Das Gehirn bildet zusammen mit dem Rückenmark das Zentrale Nervensystem. Als Schaltzentrale des Körpers managt es sämtliche Körperfunktionen, verarbeitet Sinneswahrnehmungen und speichert Informationen. Es fühlt, lernt, denkt und handelt. Dafür müssen verschiedene Gehirnbereiche zusammenarbeiten. Das menschliche Gehirn lässt sich in 4 Bereiche gliedern:

Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn und Stammhirn.

Abb.1: Die verschiedenen Bereiche des Gehirns

Das Stammhirn „(auch Hirnstamm) gilt als Verbindungsstelle des Zentralen Nervensystems zwischen Gehirn und Rückenmark. Hier gehen alle Informationen durch, die zum Gehirn transportiert werden. Evolutionär gesehen ist es der älteste Teil des Gehirns. Es steuert lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag, Blutdruck und Atmung. Des Weiteren entspringen hier Reflexe wie der Lidschluss, das Husten und das Schlucken.“ [1]

Das Zwischenhirn ist die Fortsetzung des Stammhirns in Richtung Großhirn. Es besteht u.a. aus dem Thalamus, dem Hypothalamus und der Hypophyse. Der Thalamus als Wächter des Großhirns bildet dabei die größte Region. Hier werden alle Reize bzw. Sinneseindrücke gefiltert, bevor sie über vordefinierte Bahnen ans Großhirn weitergegeben werden. Da der Thalamus Sinneseindrücke zur Bewusstwerdung an das Großhirn weiterleitet, nennt man ihn auch das „Tor zum Bewusstsein“. Die Hypophyse produziert Hormone und gibt sie ab. Die Abgabe der Hormone wird durch den Hypothalamus kontrolliert, er verbindet Hormonhaushalt und Nervensystem. Zudem regelt der Hypothalamus wichtige unbewusste Funktionen wie den Kreislauf, Schlaf, Körpertemperatur, Hunger und Durst, das Schmerzempfinden und Sexualverhalten.

Das Kleinhirn ist in der Hauptsache für unser Körperbewusstsein zuständig, es koordiniert und steuert unsere Bewegungsabläufe. „Neuere Studien lassen vermuten, dass das Kleinhirn nicht nur für Motorik zuständig ist.

Die Neurologin Catherine Limperopoulos und ihre Kollegen von der McGill University in Montréal untersuchten im Jahr 2005 Kinder, die mit Kleinhirnverletzungen geboren wurden. Neben motorischen Problemen hatten die kleinen Patienten auch Schwierigkeiten mit kognitiven Prozessen wie der Kommunikation, sozialem Verhalten und der visuellen Wahrnehmung. Zudem zeigen bildgebende Verfahren, dass bei einer Vielzahl von Tätigkeiten Aktivität im Kleinhirn aufleuchtet: z.B. bei Kurzzeitgedächtnisaufgaben, der Kontrolle impulsiven Verhaltens, beim Hören und Riechen, Schmerz, Hunger, Atemnot und vielem mehr. Noch wissen die Neurowissenschaftler nicht, welche Rolle das Kleinhirn bei diesen verschiedenen Aufgaben spielt. Eine verbreitete Hypothese lautet, dass das Kleinhirn für zeitliche Koordination zuständig ist.“ [2]

Das Großhirn ist der am höchsten entwickelte Bereich des menschlichen Gehirns. Mit ungefähr 80% ist es auch der größte Teil. Es bestimmt maßgeblich unser Erleben, Fühlen, Denken und Handeln – unser ICH – also das Bewusstsein. Wo genau im menschlichen Gehirn das Bewusstsein sitzt bzw. entsteht, kann derzeit niemand sagen.

Als Kommunikationszentrale verbindet das Großhirn Organe und Gewebe miteinander und stimmt sie aufeinander ab. Hier werden Reize aus der Umwelt und aus dem Inneren unseres Organismus aufgenommen, beurteilt, verarbeitet und dann eine Antwort abgegeben.

Das Großhirn besteht aus einer rechten und einer linken Gehirnhälfte (Abb.2a). Die rechte Gehirnhälfte steuert die linke Körperseite und die linke Hälfte ist für die rechte Seite zuständig. Damit beide Gehirnhälften zusammenarbeiten können, sind sie in der Mitte durch ein dickes Bündel aus Nervenfasern verbunden, dem Balken (Abb.2b). Mehr zum Balken im kurzen Video hier. Wenn du beim Betrachten dieses Videos ein „iiihhh“ denkst, erinnere dich daran, dass dein Gehirn gerade einen unerwarteten Spiegelblick auf sich selbst wirft!

Abb.2a: Die beiden Gehirnhälften
Abb.2b: Der Balken verbindet die beiden Gehirnhälften [10]

Bestimmte Aufgaben des Großhirns lassen sich jedoch nicht einer Seite zuordnen, sondern verschiedenen Arealen (Abb.3), die sowohl links als auch rechts über das Gehirn verteilt liegen. Diese Areale sind auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert. Jede Region besitzt dabei sogenannte Assoziationsfunktionen. Das bedeutet, keine Region allein ist für eine bestimmte Fähigkeit verantwortlich, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen.

Abb.3: Die verschiedenen Bereiche des Großhirns

In der Großhirnrinde sind deshalb sowohl benachbarte Regionen als auch weit voneinander entfernte Regionen miteinander verknüpft, man nennt das auch lokale und überregionale Vernetzung.

Um die Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen, zoomen wir nun tiefer in das Gehirn hinein.

Alle Gewebe und Organe unseres Körpers bestehen aus Zellen. Im menschlichen Körper gibt es mehr als 200 verschiedene Zelltypen. Jeder Zelltyp ist darauf spezialisiert, eine bestimmte Funktion zu erfüllen oder ein spezialisiertes Gewebe zu bilden.

Auch das Gehirn, das komplizierteste Organ, dass die Natur hervorgebracht hat, besteht aus Zellen.

Bei den Gehirnzellen unterscheidet man zwischen zwei Zelltypen, den Neuronen (Nervenzellen) und den Gliazellen (Nervengewebszellen).

Die Neuronen bilden die Grundeinheit der Informationsverarbeitung. Sie erzeugen elektrische Impulse, um Informationen zu übertragen.

Abb.4: Neuronen, Aufbau der Nervenzellen

Neuronen bestehen aus einem Zellkörper, dem Soma. Von ihm gehen mehrere Fortsätze, die Neuriten, ab:

  • ein Fortsatz: das Axon, das Reize sendet und
  • mehrere kurze, verästelte Fortsätze: die Dendriten, die Reize empfangen.

Das Axon wirkt wie ein Kabel, das die elektrischen Signale des Neurons weiterleitet. Es kann sich über Entfernungen von wenigen Mikrometern (lokale Vernetzung) bis zu einem Meter und mehr (überregionale Vernetzung) erstrecken.

In der Senderegion verzweigt sich das Axon und bildet Synapsen (die Kontaktstellen bzw. Verbindungen) mit den Dendriten der Empfängerzelle. Neuronen befinden sich über die Synapsen in gegenseitigem Kontakt. Je mehr Synapsen ein Neuron hat, desto mehr Informationen kann es übertragen.

Jedes Neuron kann mit bis zu 10.000 anderen Neuronen verbunden sein. Bei ca. 86 Milliarden Neuronen kommen, so schätzt man, bis zu 100 Billionen Verbindungen und mehr zustande.

Es gibt viele unterschiedliche Arten von Neuronen, die Spezialisierungen in Form und Funktion entwickelt haben. Auch die Zelldichte innerhalb jedes Hirnareals variiert. Interessanterweise befinden sich die meisten Neuronen, ca. 80 Prozent, im Kleinhirn. Aktuellen Angaben zufolge sind nur etwa 19 Prozent der Neuronen im Großhirn angesiedelt.

Die Gliazellen „sind Zellen der Nervengewebe. Ursprünglich wurde ihnen nur eine Stütz- oder Haltefunktion zugeschrieben. Daher stammt auch die Bezeichnung glia, griechisch für Leim. Heute weiß man, dass sie an Prozessen wie der Signalweiterleitung, dem Stoffwechsel oder der Immunabwehr beteiligt sind.“ [3]

Gliazellen sind im Vergleich zu Neuronen nicht elektrisch aktiv und leiten keine Erregung weiter. Trotzdem sind Gliazellen aktiv an der synaptischen Funktion beteiligt. Vor allem dadurch, dass sie benachbarte Neuronen isolieren, stützen und ernähren. Es gibt schätzungsweise zehnmal mehr Gliazellen als Neuronen. Sie machen zudem mehr als die Hälfte des Nervensystemvolumens aus. [4]

Auch bei den Gliazellen gibt es viele verschiedene Arten. Drei wichtige Gruppen sind zum Beispiel die Astrozyten (sie versorgen unter anderem die Nervenzellen mit Energie), die Oligodendrozyten (sie bilden das Isoliermaterial für die Nervenzell-Ausläufer) und die Mikroglia (sie sind mit den Immunzellen verwandt, schützen u.a. aktiv das Nervengewebe und unterstützen dessen Regeneration nach einer Verletzung).

Abb.5: Gliazellen (Quelle)

Die Entwicklung des Gehirns beginnt wenige Tage nach Befruchtung der Eizelle im Embryo. Zunächst werden neuronale Stammzellen gebildet, hauptsächlich im Neuralrohr, dem späteren Zwischenhirn und Rückenmark. Von ihrem Entstehungsort aus wandern die neuronalen Stammzellen an den Ort, an dem sie später gebraucht werden. Dabei bilden sich die Zellen um und werden zu funktionellen Neuronen. Diesen Prozess bezeichnet man als Neurogenese. Pro Minute entwickeln sich so ca. 250.000 neue Nervenzellen.

„Gemäß dem aktuell anerkanntesten Modell, mit dem Neurowissenschaftler die Funktionsweise des Gehirns theoretisch erklären, sind die einzelnen Nervenzellen zunächst in kleinen Verbänden zusammengeschaltet, in so genannten Modulen. Mehrere dieser Schaltkreise bilden wiederum größere Cluster.“ [5]

Man kann sich das Gehirn als ein System vorstellen, dessen grundlegende Bausteine (die Neuronen) sich in Ensembles (vom Modul bis zum Cluster) verschiedener Größen organisieren, die wiederum miteinander verknüpft sind und so Netzwerke unterschiedlicher Größenordnungen bilden. [6]

Diese modulare Vernetzungsstruktur entsteht dabei schon in einer frühen Phase der Entwicklung. Forscher konnten auch belegen, dass das Wachstum von Neuriten (den Zellfortsätzen zum Senden und Empfangen von Signalen) und die Wanderung von Zellen beim Entstehen spezifischer Netzwerkarchitekturen interagieren. Dieses Zusammenspiel steuert das Verhältnis zwischen lokaler Vernetzung kurzer Reichweite und globaler Vernetzung langer Reichweite über Cluster hinweg und bestimmt damit auch den Grad an Modularität im neuronalen Netzwerk. [6]

Modularität ist das Prinzip des Zerlegens von Aufgaben in kleinere Teilaufgaben (Module), um die Bearbeitungsgeschwindigkeit zu erhöhen. Neuronale Netze arbeiten zum Teil modular, d.h., Teilaufgaben werden in verschiedenen Bereichen des Gehirns verarbeitet, welche wiederum untereinander verknüpft sind (modulare Systeme). [7]

„Ein derartiger Aufbau ist enorm effizient, da jede einzelne Nervenzelle Teil unterschiedlicher Gruppierungen und Schaltkreise ist – und somit auch mehrere Aufgaben übernehmen kann. Werden bestimmte Ensembles gerade nicht gebraucht, lassen sie sich aktiv ausschalten. Die Netzwerke können zudem parallel arbeiten und passen sich stets an neue Anforderungen an: Sie entwickeln sich gewissermaßen permanent weiter.“ [5]

Doch wie lernt das Gehirn und wie speichert es die erlernte Information ab?

Lernen findet an den Synapsen statt. Was passiert dabei an den Synapsen? Über Dendriten nimmt ein Neuron elektrische Signale auf und leitet sie zum Zellkörper. Von dort werden die Signale über das Axon an andere Neuronen weitergeleitet (siehe Abb.6).

Abb.6: Elektrische Signale werden von Neuronen über Synapsen weitergeleitet

Die Übertragung des Signals von einer Nervenzelle zur nächsten erfolgt an den Synapsen. Eine Synapse ist die Verbindungsstelle zwischen Sender und Empfänger.

Zwischen der Präsynapse (Zellmembran vor der Synapse) des Senders und der Postsynapse (Zellmembran nach der Synapse) des Empfängers befindet sich der synaptische Spalt, den das Signal überwinden muss (Abb.7).

Abb.7: Signalübertragung an chemischen und elektrischen Synapsen [8]

Vor dem Spalt wird das elektrische Signal in ein chemisches Signal umgewandelt (siehe Abb.7a). Das elektrische Signal führt dazu, dass an der präsynaptischen Membran chemische Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, ausgeschüttet werden. Diese fließen in den synaptischen Spalt. In der postsynaptischen Membran befinden sich Kanäle. Binden die Neurotransmitter an den Rezeptoren dieser Kanäle, öffnen sie sich und bestimmte chemische Botenstoffe strömen in die postsynaptische Zelle hinein. Diese chemischen Botenstoffe werden dann an speziellen Rezeptoren wieder in ein elektrisches Signal umgewandelt und weitergeleitet.

Für ein besseres Verständnis über die Vorgänge an der Synapse empfehle ich das Video: Synaptische Plastizität – wie das Gehirn lernt.

Man kann sagen, die Nervenzellen kommunizieren, die eine Zelle redet und die andere hört zu. Synapsen sind auch in der Lage, die Stärke der Kommunikation in Abhängigkeit ihrer Nutzung zu verändern. Wenn wir etwas lernen oder üben, erhöht sich die Aktivität der benutzten Synapsen. Dies bewirkt, dass sich die Menge der chemischen Botenstoffe erhöht, zusätzliche Rezeptoren auf den Empfängerzellen entstehen oder die Kontaktflächen der Synapsen wachsen. Dadurch wird die Synapse verstärkt. Lernen wir etwas Neues, werden auch neue Synapsen gebaut. Weniger gebrauchte Synapsen werden abgeschwächt, nicht benutzte verschwinden wieder. Das eingehende Signal kann aber auch hemmend auf die postsynaptische Zelle wirken und damit die weitere Kommunikation unterdrücken.

Die Effektivität der Synapsen wird also aktivitätsabhängig angepasst. Dies ist ein andauernder Prozess, der dazu führt, dass sich Synapsen ständig verändern. [8]

Da die häufigsten Verbindungen chemische Synapsen sind, sind in der Regel auch diese gemeint, wenn die Rede von „Synapsen“ ist. Neben den chemischen Synapsen gibt es auch elektrische Synapsen.

„An elektrischen Synapsen (Abb.7b) sind zwei benachbarte Zellen direkt durch eine Art Tunnel miteinander verbunden. Die gängige Lehrbuchmeinung war lange, dass diese Tunnel starre unveränderbare Strukturen sind, deren einzige Aufgabe es ist, elektrische Stromflüsse direkt von einer Zelle zur nächsten Zelle weiterzuleiten.“ In den letzten Jahren konnte jedoch nachgewiesen werden, „dass elektrische Synapsen sehr wohl veränderbar sind und sogar ihre Stärke aktivitätsabhängig anpassen können. Das heißt, auch bei elektrischen Synapsen kann die Stärke der synaptischen Übertragung erhöht oder verringert werden, je nachdem wie stark sie genutzt werden.“ [8]

Die aktivitätsabhängige Anpassung der Synapse wird als synaptische Plastizität bezeichnet. Mit anderen Worten, das Gehirn ist „plastisch“, also formbar. Das ist eine Bedingung dafür, angemessen auf Änderungen in der Umwelt reagieren zu können.

Synaptische Plastizität ist die Grundlage von Lernen und Gedächtnis. [9]

Unser Gehirn ist ständig im Umbau. Neue Erfahrungen und Eindrücke verändern fortwährend seine Architektur – das neuronale Netzwerk.

Durch neue Erfahrungen und Lernprozesse legt das Gehirn neue Pfade an. Wiederholungen machen Informationen für das Gehirn bedeutsam. Dabei werden Verbindungen stabilisiert und gestärkt, ähnlich einem Trampelpfad, der um so breiter wird, je öfter man ihn läuft. Nutzt man diesen Trampelpfad nicht mehr, schwächt er sich ab. Er wird nicht ganz verschwinden, es wird nur schwerer, ihn zu finden. Dies wird in der Regel als „vergessen“ bezeichnet. Für ein besseres Verständnis schau dir dazu dieses Video: The Neuroscience of Learning an.

Erfahrungen werden zu Gedächtnisspuren – zu sogenannten Engrammen. Jede Erfahrung bildet dabei ein spezielles Muster aus miteinander verbundenen Nervenzellen.

Wenn man etwas erlebt, werden unterschiedliche Merkmale wie Geräusche, Bilder, Fakten und Emotionen dieses Ereignisses in verschiedenen Regionen des Gehirns angesprochen. Durch die gemeinsame elektrische Aktivität der Nervenzellen entsteht das Muster im Gehirn – das Engramm. Dieses Muster bzw. diese Gedächtnisspuren liegen über verschiedene Gehirnareale verteilt (Abb.8).

Abb.8: Sinnbildliche Darstellung einer Gedächtnisspur

Für eine Erinnerung müssen ausreichend viele der für ein bestimmtes Muster entscheidenden Neuronen aufgerufen werden, damit sich die einzelnen Teile dieses Musters zu einem Ganzen zusammenfügen können.

Die Gesamtheit aller Engramme ergibt das Gedächtnis. „Diese in «eingeschliffenen Bahnen» gespeicherten Informationen sind später willkürlich oder unwillkürlich (auf auslösende Reize hin) abrufbar und somit die physiologische Grundlage des Gedächtnisses.“ [10]

Erinnerung ist folglich das Wiederauffinden und erneute Abrufen der mit einer Information assoziierten Gedächtnisspur.

„Wenn die meisten von uns über unser Gedächtnis sprechen, beziehen wir uns auf unsere Fähigkeit, sich bestimmte vergangene Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Aber Erinnerung ist so viel mehr als das und umfasst alle Arten, wie unsere vergangenen Erfahrungen unsere aktuellen Gedanken und Verhaltensweisen beeinflussen.“ [11]

Kein Gehirn gleicht dem anderen. Engramme sind bei jedem Menschen individuell. Sie machen jeden von uns einzigartig. Die im Laufe eines Lebens gesammelten Erfahrungen formen das neuronale Netz und bilden damit die Grundlage jeder individuellen Wahrnehmung. Und das ist auch die Erklärung, warum jeder Mensch die Welt um ihn herum anders wahrnimmt.

„Erinnerungen sind aus wundersamem Stoff gemacht – trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlass auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen. Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn. Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewusstsein gelöscht wäre. Zwischen uns und dem Nichts steht unser Erinnerungsvermögen, ein allerdings etwas problematisches und fragiles Bollwerk.“

Klaus Mann 1953

Es bleiben Rätsel

Obwohl man schon viel über das Gehirn und seine Funktionsweise herausgefunden hat, bleiben dennoch viele Rätsel unbeantwortet.

WIE und WO entsteht Bewusstsein?
Wie funktioniert Denken und Fühlen?
Wie treffen wir Entscheidungen?
Wie arbeitet das Gedächtnis genau?
Was passiert zum Beispiel im Gehirn, wenn man ein Gesicht erkennt?

Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass die Neurowissenschaft bis jetzt nur oberflächlich versteht, was unser Gehirn leistet. Nachfolgend einige Beispiele der neuesten Forschungsergebnisse.

Verborgene Schicht eines neuronalen Kommunikationsnetzwerks entdeckt, das durch Dendriten gesteuert wird

„Wissenschaftler der University of California haben eine verborgene Schicht eines neuronalen Kommunikationsnetzwerks entdeckt, das durch Dendriten gesteuert wird. Diese Entdeckung kann die Grundlagen der bisherigen Neurowissenschaften verändern. Bis vor wenigen Monaten ging man davon aus, dass Dendriten ein «passives Kabelnetzwerk» bilden. Das heißt, Forscher glaubten, dass sie nur elektrische Signale an den Zellkörper, auch Soma genannt, weiterleiten. Die neue Forschung hat jedoch gezeigt, dass diese Zellfortsätze weit mehr sind als nur passive Leiter. Sie erzeugen elektrische Signale, die fünfmal größer und häufiger sind als bei Neuronen.

Forscher entdeckten auch, dass Dendriten sich intelligent verhalten. Mit anderen Worten, Dendriten können ihre elektrischen Signale im Laufe der Zeit anpassen. Diese Entdeckung legt den Schluss nahe, dass Dendriten von selbst lernen können. Diese eine Eigenständigkeit hatten Forscher nicht vermutet.[12]

„Es ist, als würde man plötzlich feststellen, dass Kabel, die zur CPU unseres Computers führen, auch Informationen verarbeiten können – völlig bizarr und etwas umstritten.“ Dr. Mayank R. Mehta [12]

Neuronen reagieren völlig unterschiedlich auf virtuelle und reale Umgebungen

Forscher unter der Leitung von Mayank Mehta von der University of California waren auch überrascht, als sie herausfanden, dass Neuronen im Gehirn von Ratten völlig unterschiedlich auf virtuelle und reale Umgebungen reagierten.

„Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung neuer Erinnerungen und der Erstellung mentaler Raumkarten. Wenn eine Person beispielsweise einen Raum erkundet, werden Hippocampus-Neuronen selektiv aktiv und erstellen eine -kognitive Karte- der Umgebung.

In der virtuellen Welt schienen die Hippocampus-Neuronen der Ratten völlig zufällig zu feuern, als hätten die Neuronen keine Ahnung, wo sich die Ratte befand – obwohl sich die Ratten in der realen und virtuellen Welt völlig normal zu verhalten schienen. Die -Karte- verschwand vollständig.“ [13]

Vierte Hirnhautschicht entdeckt, die wichtig für den Immunschutz sowie den Flüssigkeitstransport im Gehirn ist

Wissenschaftler der University of Rochester Medical Centers aus den USA sowie der Universität Kopenhagen in Dänemark haben eine weitere Entdeckung gemacht. Bislang ging die Neurowissenschaft davon aus, dass das menschliche Gehirn von drei Hirnhautschichten umgeben ist. Doch die Wissenschaftler entdeckten eine vierte Hirnhautschicht, die wichtig für den Immunschutz sowie den Flüssigkeitstransport im Gehirn ist: die „subarachnoidale lymphatische Membran“, auch als „SLYM“ bezeichnet. [14]

SLYM ist eine Art Membran, die sehr dünn und empfindlich ist und nur aus wenigen Zellen besteht. Dennoch ist SLYM eine dichte Barriere, die nur sehr kleine Moleküle durchlässt und außerdem scheinbar saubere, frische Hirnflüssigkeit von alter Hirnflüssigkeit trennt. Diese Beobachtung weist auf die wahrscheinliche Rolle von SLYM hin, toxischen Proteine aus dem Zentralnervensystem auszuspülen, die mit Alzheimer und anderen neurologischen Erkrankungen in Verbindung stehen. [14]

Abb.9: SLYM, eine neu entdeckte Membran im Gehirn [14]

„Das SLYM scheint auch wichtig für die Abwehrkräfte des Gehirns zu sein. Das Zentralnervensystem hält seine eigene native Population von Immunzellen aufrecht und die Integrität der Membran verhindert das Eindringen externer Immunzellen. Darüber hinaus scheint die Membran eine eigene Population von Immunzellen des Zentralnervensystems zu beherbergen, die SLYM als Beobachtungspunkt nahe der Oberfläche des Gehirns nutzen, um vorbeiziehenden Liquor auf Anzeichen einer Infektion oder Entzündung zu scannen.“ [14]

Kleine Veränderung, große Wirkung – Fehlfunktionen im Gehirn

Damit Informationen im Gehirn korrekt verarbeitet werden, stehen die Nervenzellen im ständigen Austausch miteinander. „Ist die Balance zwischen erregenden und hemmenden Synapsen jedoch gestört, kann das pathologische Folgen haben“. [15]

„Fehlfunktionen von Gehirn und Nervensystem können durch eine ganze Reihe von Faktoren verursacht werden. Durch äußere Einwirkung, Vererbung oder einer Kombination von beidem kann das komplexe Geflecht geschädigt werden und zu neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen führen. Allerdings sind die genauen Ursachen und Zusammenhänge bei vielen Krankheiten bislang noch unbekannt.

Gehirn und Nervensystem arbeiten mit großer Präzision. Voraussetzung dafür ist, dass die komplexe Struktur von Gehirn und Nervensystem intakt ist und die Stoffwechselprozesse störungsfrei ablaufen. Mögliche Unregelmäßigkeiten und Beeinträchtigungen in diesem komplizierten System können zwar bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden. Doch das hat seine Grenzen.

Wird die Hirnstruktur geschädigt oder treten schwere Störungen der elektrischen und biochemischen Vorgänge auf, führt dies häufig zu neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Welche Fehlfunktionen auftreten, hängt dabei von Ort und Art der Schädigung ab. Ist beispielsweise das Hörzentrum der Großhirnrinde betroffen, ist die Hörfähigkeit beeinträchtigt. Solche einfachen Zuordnungen von Schädigung und Fehlfunktion sind aber nicht immer möglich, weil viele Nervenzellstrukturen an einer ganzen Reihe von Funktionen beteiligt sind.“ [16]

Die Gehirn-Computer-Schnittstelle

Eine Gehirn-Computer-Schnittstelle, auch Brain-Computer-Interface (BCI), ist eine direkte Verbindung zwischen dem menschlichen Gehirn und einer Maschine. Menschen sollen in der Lage sein, Geräte direkt über ihre Gedanken zu steuern. Durch die spezielle Mensch-Maschine-Schnittstelle wird ohne Aktivierung des peripheren Nervensystems, also ohne Nutzung der Extremitäten, eine Verbindung zwischen dem Gehirn und einem Computer ermöglicht. Zum peripheren Nervensystem gehören die Nerven; die Kopf, Gesicht, Augen, Nase, Ohren und Muskeln mit dem Gehirn verbinden.

Für die Umsetzung werden Elektroden benötigt, die die Gehirnaktivität messen. Dabei unterscheidet man zwei BCI-Arten, die invasive BCI und nichtinvase BCI. Bei der nichtinvasiven (äußeren) Anwendung, wird eine Art Badekappe mit eingenähten Elektroden auf den Kopf gesetzt. Bei der invasiven (eindringenden, gewebsverletzenden) Anwendung implantiert man einen Chip auf die Gehirnrinde. Das Brain-Computer-Interface übersetzt dann die neuronale Aktivität (z.B. das EEG) des Gehirns in Signale, die an einen Computer weitergeleitet werden, der sie in konkrete Befehle umwandelt.

Abb.10: Invasive Anwendung: ein hochleistungsfähiges intrakortikales Sprach-BCI

Da die derzeitigen BCI-Ausführungen mit vielen Kabeln am Kopf nicht besonders alltagstauglich sind und eine verringerte Benutzerakzeptanz aufweisen, versuchen Neurowissenschaftler drahtlose BCI-Anwendungen zu entwickeln.

Neuralink ist ein Beispiel dafür. Das Video zeigt, wie der Affe Pager nur mittels seiner Gehirnaktivität „MindPong“ spielt.

Um Pong zu spielen, müssen nicht so viele Elektroden implantiert werden. Aber wenn man ein System haben möchte, das über viele Jahre hinweg stabil ist und komplexe Bewegungen steuern kann, z.B. bei einer Handprothese, benötigt man einen höheren Satz an Signalen, die möglicherweise aus mehreren Regionen des Gehirns aufgezeichnet werden. Und die derzeit verfügbaren Geräte (Stand 15.02.2022) unterstützen nur sehr wenige Aufzeichnungskanäle und oft mit sehr begrenzten Bandbreiten. Bei der drahtlosen Technologie reicht die Ausstattung der Geräte auch nicht aus, um große Mengen neuronaler Rohdaten vom Gerät an andere Systeme zu übertragen. [17]

Die Firma B-CRATOS arbeitet an der Entwicklung einer Plattform zur drahtlosen Weiterleitung von Signalen mit hoher Bandbreite durch den Körper, um elektronische Geräte wie Prothesen und medizinische Implantate zu verbinden und zu steuern.

Abb.11: Invasive Anwendung: B-CRATOS in-body network

Welche Unterschiede gibt es zwischen invasiven und nicht invasiven Anwendungen?

Dr. Heuer: „Invasive Brain Computer Interfaces ermöglichen eine genauere und klarere Signalerfassung und eine höhere Auflösung der Aktivitätsmuster. Aufgrund von Abstoßungsreaktionen des Körpers (z.B. Narbenbildung) müssen die Implantate aber nach einer bestimmten Zeit (u.U. mehreren Monaten) entfernt werden bzw. verlieren ihre Funktionsfähigkeit. Nicht-invasive BCI sind anfälliger gegenüber externen Störquellen und liefern eine geringere Auflösung. Dafür sind sie «harmloser»“. [18]

Wo liegen die Vor- und Nachteile des Brain Computer Interface?

Dr. Heuer: „Einfache Antwort: Momentan bieten BCI gesunden Menschen keinerlei Vorteile. Klassische Eingabegeräte (Lenkrad, Pedal, Maus, Tastatur, Touchscreens; auch Sprachsteuerung) sind BCI deutlich überlegen. Für Menschen mit starken körperlichen Einschränkungen, die weder die klassischen Eingabegeräte noch speziellere Schnittstellen (Eye-Tracker, Kopf-Maus, Zungen-Joystick) nutzen können, können BCI aber schon heute ein «Game Changer» sein.“ [18]

Ist man vor einer Fremdsteuerung und Hackerangriffen geschützt, falls man die invasive Methode benutzt?

Dr. Heuer: „Hier ist es wiederum notwendig, … zwischen uni- und bidirektionalen BCI zu unterscheiden. Die Antwort ist spekulativ, aber die Gefahr einer Fremdsteuerung würde ich als gering einschätzen. Dennoch kann man sich, insbesondere bei implantierten BCI, bösartige Angriffe vorstellen (sei es nur eine elektrische Überladung o.ä., die zu geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen führt).“ [18]

Dr. Heuer: „Bidirektionale BCI-Systeme, die sowohl Informationen auslesen als auch Signale ins Gehirn einspeisen können, könnten in ferner Zukunft eine maschinenvermittelte Hirn-zu-Hirn-Kommunikation ermöglichen und einen Grad organischtechnischer Interaktion erschließen, der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen lässt.“ [19]

Wo liegen die Gefahren des Brain Computer Interface?

Dr. Heuer: „Invasive BCI: Operationen am offenen Gehirn bergen offensichtlich immer Gefahren.“ [18]

Um das Gehirn freizulegen, wird die Haut durchtrennt, bis zum Schädel vorgedrungen und ein Loch in den Schädel gebohrt. Die schützenden Gewebeschichten, die das Gehirn umgeben, müssen durchtrennt werden. Dann gelangt man an das Gehirn, wo die Elektroden implantiert werden. Die größten Risiken bei dieser Operation sind Infektionen, Blutungen und Gewebeschäden.

Um es nochmal klar zu sagen, für Menschen mit starken körperlichen Einschränkungen, sind BCI-Anwendungen im Bereich der Rehabilitation und medizinischen Versorgung, zur Wiederherstellung sozialer Interaktion oder Bewegungsfähigkeit trotz aller damit verbundenen Risiken durchaus sinnvoll.

Das war auch der ursprüngliche Fokus der Forschung in diesem Bereich. In den letzten Jahren werden jedoch zunehmend auch weitere Einsatzmöglichkeiten in Betracht gezogen, die nicht nur medizinische Gründe haben, wie der folgende Werbefilm zeigt.

HUMAN BRAIN PROJECT (HBP)

„Das Human Brain Project ist eines der größten Forschungsprojekte in Europa. Als europäisches Flaggschiff-Projekt für künftige und neu entstehende Technologien (Future and Emerging Technologies (FET) Flagship) ist das HBP eine langfristige und groß angelegte Forschungsinitiative, die wegweisende Pionierarbeit für die Digitalisierung der Hirnforschung leistet.“ [20]

In dem Dokument „Spotlights on latest scientific advances“ auf Seite 4 (Abb.12) vom Human Brain Project sind einige Forschungsschwerpunkte näher beschrieben.

Abb.12: Die neuesten wissenschaftlichen Fortschritte des Human Brain Projects

So zum Beispiel p.13: Bau von Robotern mit hirninspirierter Bewegung und Wahrnehmung oder p.15: Das Gehirn imitieren, um KI energieeffizienter zu machen.

Dazu lässt sich zusammenfassend sagen, man versucht Gehirnfunktionen von Lebewesen (hier Maus) zu verstehen, zu erfassen und auf ein computermodelliertes Gehirn möglichst genau zu exportieren. Das heißt, „die Maus wird repliziert“.

Und man denkt auch weiter. So kann man sich über ein Brain-Computer-Interface auch eine Rückkopplung auf das biologische Gehirn vorstellen. Das Ziel ist es, das Gehirn mit dem Computer und Netzwerken zu verheiraten (Abb.13).

Abb.13: Konzept eines Brain-Computer-Interface (BCI) Netzwerkes

Auch die Ziele von B-CRATOS, einem Projekt zur Neuerfindung der Konnektivität von Gehirn, Maschine und Körper, geben Hinweise, in welche Richtung es geht. „Die von B-CRATOS entwickelte Technologie wird tiefgreifende Auswirkungen auf mehrere Bereiche haben. In der Neuroprothetik umgeht es beschädigte Schaltkreise, um fehlende biologische Funktionen wiederherzustellen. Es wird sich auch auf Elektrozeutika (Modulation der Organfunktion durch neuronale Schaltkreise anstelle von Pharmazeutika), Gehirn-Computer-Schnittstellen (Gehirnplastizität durch maschinelles Lernen), Spiele (Immersion) und virtuelle Realität auswirken.“

Abb.13: Mögliche Märkte für die B-CRATOS-Technologie [Quelle]

Neben medizinischen Anwendungen avisiert man auch den BCI-Einsatz bei „Robotik und Automatisierung, Virtual Reality und E-Learning, Gaming und Infotainment“.

Unter den Partnern des B-CRATOS Projekts findet sich die Firma Blackrock Microsystems Europe GmbH. Diese Firma bekommt finanzstarke Unterstützung von zwei Startup-Milliardären: Biotech-Investor Christian Angermayer und Paypal-Gründer Peter Thiel.

Investor Christian Angermayer glaubt: „In der Zukunft könnten BCIs so gewöhnlich werden wie Herzschrittmacher heute.“ Für Angermayer ist die medizinische Anwendung nur der Beginn. Er hofft, dass die Technologie noch ein viel breiteres Anwendungsfeld finden wird: „Menschen werden miteinander kommunizieren, arbeiten und sogar künstlerisch tätig sein können, direkt gesteuert durch ihren Geist.“ [Quelle]

Und auch bei der Firma Neuralink denkt man schon weiter: „Der Link ist ein Ausgangspunkt für eine neue Art von Gehirn-Computer-Schnittstelle. Mit der Weiterentwicklung unserer Technologie wollen wir die Kommunikationskanäle mit dem Gehirn erweitern und auf mehr Hirnareale und neue Arten von neuronalen Informationen zugreifen können. Wir glauben, dass diese Technologie das Potenzial hat, ein breites Spektrum an neurologischen Störungen zu behandeln, sensorische und motorische Funktionen wiederherzustellen und schließlich die Art und Weise zu erweitern, wie wir miteinander interagieren und die Welt um uns herum erleben.“ (Stand vom Mai 2023)

Braucht die Menschheit Denkprothesen?

In dem Artikel „Who Wants a Brain Machine Interface?“ (deutsche Fassung: Wer will eine Gehirn-Maschine-Schnittstelle?) setzt sich V.N. Alexander mit dem Tech-Hype und der Ethik des Gedankenlesens auseinander. Der Artikel ist wirklich lesenswert und in sich rund, daher möchte ich hier nur den Anfang zitieren.

ZITAT von V.N. Alexander, PhD, Dozentin am IPAK-EDU:
Ich wollte noch nie in der Lage sein, eines meiner Geräte mit meinen Gedanken zu steuern. Ich bin vollkommen zufrieden mit einer physischen Schnittstelle, die ich abschalten, loslassen oder verlassen kann. Was ist mit Ihnen? Hält Sie Ihre Tastatur zurück? Bremst Ihre Maus Sie aus? Möchten Sie einen Beitrag einfach nur denken, ohne ihn mit dem Daumen eingeben zu müssen? Warum wird uns die Cyborg-Technologie so sehr aufgezwungen?“
„Hat jemand darum gebeten? Braucht sie jemand?“

In letzter Zeit wird uns ständig erzählt, der Mensch müsse mit den Maschinen fusionieren, um mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten. Oder wie es Elon Musk in einem Interview formulierte, dass wir Gehirncomputer brauchen, um nicht zu „Haustieren“ für die künstliche Intelligenz zu werden. 

Es wird behauptet, die Menschheit muss sich an diese neuen Technologien anpassen, die das Menschsein verändern.

Aber WARUM? Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Diskussion, die keine Diskussion ist.

Ich lese Fragen zum Thema wie:

  • Was Gehirn-Computer-Schnittstellen für die Zukunft bedeuten könnten?
  • Könnten Gehirn-Computer-Schnittstellen zu Gedankenkontrolle führen?
  • Welche Sicherheitsanforderungen müssen BCI-Anwendungen erfüllen?
  • Zu welchen Zwecken und unter welchen Bedingungen dürfen Informationen über das Gehirn gesammelt und verwendet werden?
  • Welche Bestandteile von Hirndaten dürfen rechtmäßig weitergegeben und anderen zugänglich gemacht werden?
  • Wer ist berechtigt, auf diese Daten zuzugreifen?
  • Wo sollten die Grenzen der Einwilligung in diesem Bereich liegen?

Aber ich finde nirgendwo die Frage: Brauchen gesunde Menschen die BCI-Technologie wirklich?

Warum gibt es nur diese eine Entwicklungsperspektive für Homo sapiens? Warum müssen wir alle in ein elektronisches Netzwerk integrieren?

Wir sind doch bereits alle in einem Netzwerk, in einem biologischen Netzwerk. Ich bin der Meinung, wenn die Natur gewollt hätte, dass wir miteinander direkt verbunden sind, dann hätte sie uns so gemacht. Nirgendwo in der Natur sehen wir solche direkten Verbindungen. Selbst Ameisenkolonien und Bienenvölker sind Ansammlungen eigenständiger Lebewesen, die sich über akustische und chemische Signale austauschen. Offensichtlich hat sich die Natur etwas dabei gedacht.

Jeder Mensch denkt anders. Und genau das macht den Organismus Menschheit auch aus. Wir sind schon vernetzt und kommunizieren intensiv miteinander. Warum sollten wir uns Denkprothesen implantieren, die uns schrittweise entmenschlichen. Wer will das? Wem nützt das? Der Mensch ist ein Bestandteil der Natur. Sollte sich der Mensch über die Natur erheben? Hat das schon jemals irgendwann funktioniert?

Ich bin nicht technologieunfreundlich. Ganz im Gegenteil. Und in meinen Überlegungen geht es nicht um ein Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Eher um ein Misstrauen gegenüber bestehenden Machtstrukturen, die bereits heute das gesellschaftlich-politische Leben prägen, wie die Geschehnisse der letzten drei Jahre zeigen. In wessen Hände geraten die Ergebnisse von diesen Forschungen und wie kommen sie dann zum Einsatz?

Wenn ich keinen mentalen Rückzugsort mehr habe und wenn ich nicht mehr Herr (oder Frau) meiner Gedanken bin… WER bin ich dann? WAS bin ich dann? Gibt es dann noch ein ICH? Mit all dem Wissen über unser Gehirn, dem derzeitigen Stand der BCI-Technologie und dem Wissen, was man in der Zukunft mit BCIs gedenkt zu tun, kann jeder für sich selbst entscheiden, ob er ein Brain-Computer-Interface haben möchte oder nicht. Zumindest solange es NOCH eine freie Entscheidung bleiben darf.

Epilog

Am 16.02.2022 berichtete die PC-WELT: „16 der 23 Affen seien an Tests mit Elon Musks Neuralink-Implantaten gestorben.“


Quellen (Stand vom 01.09.2023)

[1] Gesundheitswissen, “Gehirn: Aufbau, Training und Erkrankungen“, 22.02.2023, https://www.gesundheitswissen.de/gesund-leben/gesundheitsprobleme/gesundes-nervensystem/gehirn/

[2] dasgehirn.info, Der Kosmos im Gehirn, “Das Kleinhirn“, Hanna Drimalla, 26.07.2011, https://www.dasgehirn.info/grundlagen/anatomie/das-kleinhirn

[3] studyflix, “Gliazellen“, Hanna Drimalla, Stand vom 06.05.2023, https://studyflix.de/biologie/gliazellen-2967

[4] Spektrum.de, “Gliazellen“, Copyright 2000, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/gliazellen/4781

[5] http://www.dasGehirn.info, Der Kosmos im Kopf, “GUT VERNETZT“, Janosch Deeg, 30.04.2020, https://www.dasgehirn.info/grundlagen/struktur-und-funktion/gut-vernetzt

[6] [werner.stangl]s arbeitsblätter (Stangl, 2023), “Neuronen – Nervenzellen“, W. Stangl, 12.05.2023, https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/Gehirn-Neuronen.shtml

[7] Spectrum.de, “Modularität“, Copyright 2000, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/modularitaet/7824

[8] Spectrum.de, “Die unterschätzte Synapse“, von klartext, 02.09.2021, https://scilogs.spektrum.de/klartext/die-unterschaetzte-synapse/

[9] MAX-PLANCK-Gesellschaft, “Das Gehirn“, Stand vom 06.05.2023, https://www.mpg.de/gehirn

[10] Spectrum.de, “Engramm“, Copyright 1999, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/engramm/21404

[11] BOSTON COLLEGE, “Die Wissenschaft hinter dem Gedächtnis“, Elizabeth A. Kensinger, März 2023, https://www.bc.edu/content/bc-web/bcnews/science-tech-and-health/psychology/the-science-behind-memory.html

[12] Gedankenwelt, “Dendriten: Der Beginn einer neurowissenschaftlichen Revolution?“, Sonia Budner, 28.01.2023, https://gedankenwelt.de/dendriten-der-beginn-einer-neurowissenschaftlichen-revolution/

[13] UCLA, University of California, ”Brain’s reaction to virtual reality should prompt further study, suggests new research by UCLA neuroscientists, Stuart Wolpert, 24.11.2014, https://newsroom.ucla.edu/releases/brains-reaction-to-virtual-reality-should-prompt-further-study-suggests-new-research-by-ucla-neuroscientists

[14] University of Rochester Medical Center, ”Neu entdeckte Anatomie schützt und überwacht das Gehirn“, Mark Michaud, 05.01.2023, https://www.urmc.rochester.edu/news/story/newly-discovered-anatomy-shields-and-monitors-brain

[15] medinlive, medizinische information live, “Nervenzellen völlig falsch verbunden“, 25.4.2019, https://medinlive.at/wissenschaft/nervenzellen-voellig-falsch-verbunden

[16] Neurologen und Psychiater im Netz, “Fehlfunktionen und Schäden von Gehirn und Nervensystem“, Prof. Dr. med. Andreas Meyer-Lindenberg, Prof. Dr. Gregor Hasler, Stand vom 06.05.2023, https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/gehirn-nervensystem/fehlfunktionen/schaeden/

[17] B-CRATOS, “Next Generation BCI Needs and Potential” by Dr Paul Wanda – Blackrock Microsystems Europe, https://www.youtube.com/watch?v=6iZZ3gPksTw&t=1100s

[18] FUTURE COMMUNICATION, “Brain Computer Interface: Der Informationsaustausch von Gehirn und Maschine“, Tatjana Ladwig, 09.12.2021, https://futurecommunication.de/brain-computer-interface-der-informationsaustausch-von-gehirn-und-maschine/

[19] Frauenhofer INT, “Brain-Computer-Interfaces”, Dr. Carsten M. Heuer, Dezember 2015, https://www.int.fraunhofer.de/content/dam/int/de/documents/EST/EST-1215-Brain-Computer-Interfaces.pdf

[20] JÜLICH Forschungszentrum, “HUMAN BRAIN PROJECT (HBP)“, https://www.fz-juelich.de/de/inm/inm-7/kooperationen/human-brain-project-hbp